PISA - wie schief steht der Elfenbeinturm deutscher Schulpolitik? Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse aus der PISA-Studie hat sich eine heftige Debatte um die Schulqualität in Deutschland entwickelt. In einer öffentlichen Veranstaltung des DGB und des Kreisverbandes Aschaffenburg-Miltenberg der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ging Marianne Demmer, Verantwortliche für die Abteilung Schulpolitik beim Bundesvorstand der GEW, der Frage nach, welche Wege aus dem PISA-Desaster herausführen können. "Die Leistungen des deutschen Schulsystems sind niederschmetternd", fasste Marianne Demmer in einem Satz das Resultat der PISA-Studie zusammen. Makaber sei, dass Deutschland nur bei den "schlechten Leistungen Spitzenwerte" erziele. So erreichten die deutschen Schüler zum Beispiel bei der Lesekompetenz lediglich Werte, die weit unter dem OECD-Mittelwert liegen. Doch auch in der Beurteilung der Leistungen an den Gymnasien zeige sich, dass Deutschland trotz Bestenauslese in der höchsten Leistungsstufe nur knapp den OECD-Durchschnitt erreiche. "Nur bei der sozialen Auslese sind die deutschen Schulen spitze." So hat ein unakzeptabel hoher Prozentsatz von jungen Menschen nicht die nötigen Voraussetzungen, um gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Vor allem Kinder aus Migrantenfamilien, aus armen Elternhäusern und Jugendliche mit Lernproblemen schneiden besonders schlecht ab, weil sie zu wenig Förderung erfahren. Aber auch der Vergleich von weniger problematischen Familien zeigt: Ein Kind aus einem Akademikerhaushalt hat gegenüber einem Kind aus einem Facharbeiterhaushalt eine 4 mal so große Chance, ein Gymnasium zu besuchen. Demmer konstatierte: "Das Bildungssystem in Deutschland hat zwei Probleme: ein Leistungsproblem und ein noch gravierenderes Gerechtigkeitsproblem" Trotz des tief sitzenden Schocks nach den PISA-Ergebnissen vermisst Demmer eine ernsthafte Strukturdebatte bei den Verantwortlichen für die Bildungspolitik in Deutschland. "Sie können sich nicht aus ihrer klassischen Schizophreniefalle befreien, in der sie mit ihren gegensätzlichen Vorstellungen von Eingliederung und Auslese gefangen sind." Dabei befinde sich das deutsche Bildungssystem notwendigerweise vor einer tiefgreifenden Strukturdebatte. Konsequente Auswege aus dem Bildungsnotstand müssten sehr bald entwickelt werden. Demmer sah verschiedene Ansatzpunkte für Veränderungen. - Bildung von Anfang an Die Bundesrepublik braucht ein frühkindliches Bildungssystem, da Bildung nicht erst mit dem sechsten Lebensjahr beginnt. Die in der Regel nur halbtägigen Kindertagesstätten können einen umfassenden Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht erfüllen. Demgegenüber stehen beispielsweise die Pre-Schools in Schweden vom ersten Lebensjahr bis zum Eintritt in die Schule ganztägig zur Verfügung, haben einen eigenen Bildungsauftrag und ein eigenständiges pädagogisches Konzept. Hier werden Kinder individuell gefördert und können altersangemessen lernen und spielen. - Länger gemeinsam lernen Es fällt auf, dass in den EU-Ländern unter den obersten zehn Plätzen der PISA-Studie die Schüler mindestens bis zum 12. (Belgien und Irland), die meisten jedoch bis zum 16. Lebensjahr gemeinsam eine Schule besuchen. PISA und weitere internationale Untersuchungen zeigen, dass Auslese keinesfalls zur Steigerung von Qualität und zu besseren Schülerleistungen beiträgt. Alle Länder mit sehr guten Fachleistungen haben integrierte Schulsysteme, in denen es auch nicht die Praxis des Sitzenbleibens gibt, sondern schwache Schüler gezielt gefördert werden. Nicht die Auslese von Schülern dürfe das pädagogische Prinzip an Schulen sein, sondern die Integration von verschiedenen Begabungen. - Lernen braucht Zeit In der EU haben außer Deutschland nur noch Griechenland und Österreich keine Ganztagsschulsysteme. In Ganztagsschulen sieht die GEW eine wichtige Voraussetzung für Schulreform insgesamt. Vor allem durch die Kooperation von Schulpädagogen und Sozialpädagogen können neue pädagogische Konzepte und veränderte Bedingungen für den Schulalltag geschaffen werden. Wichtig dabei ist, dass ganztägige Öffnung nicht die Ausdehnung des Vormittagsunterrichtes auf den Nachmittag bedeutet. Gute Ganztagsschulen sind Lern- und Lebensorte, die den starren Vormittagsunterricht im 45-Minuten-Takt überwinden, Lernprozesse rhythmisieren, außerschulische Lernorte und Freizeitaktivitäten einbeziehen, alternative Lernformen wie Projektlernen und altersgemischte Lern- und Freizeitgruppen ermöglichen, selbstständige und eigenverantwortliche Lernprozesse fördern, zusätzliche Interessensgebiete erschließen sowie Stütz- und Fördermaßnahmen einbeziehen. Marianne Demmer zeigte sich in der anschließenden Diskussion davon überzeugt, dass Schulen, die integrieren und individualisieren, die Schulen der Zukunft sind. Die PISA-Ergebnisse bestärkten sie in dieser Auffassung und böten eine große Chance, abseits von parteipolitischen Auseinandersetzungen die jahrzehntelange Fehlentwicklung deutscher Bildungspolitik endlich zu korrigieren.
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