Begabung ist erst mit zwölf Jahren stabil

Wann kann man Stärken und Begabungen eines Kindes wirklich beurteilen? Diese Frage ist derzeit äußerst umstritten, denn mit ihrer Beantwortung steht und fällt der Sinn der von der bayerischen Staatsregierung angestrebten Schulreform. Wissenschaftlich fundierte Antworten hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) am Samstag im Rahmen einer Fachtagung im Gewerkschaftshaus gesucht. Prominentester Gast war der Münchener Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, Rolf Oerter. Vor dem Hintergrund des Volksbegehrens „Die bessere Schulreform“ haben wir mit Prof. Oerter über Begabung und Kindesentwicklung gesprochen.

NZ: In welchem Kindesalter ist normalerweise die Entwicklung von Begabungen abgeschlossen?

OERTER: Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sich die Intelligenz etwa mit zehn Jahren stabilisiert und dass sich schon in der Grundschule die Mathematikleistung relativ stabil ausweist. Das heißt, man kann für ungefähr 50 Prozent der Kinder vorhersagen: Wer schlecht in Mathematik ist, bleibt es zumindest in der Grundschule, wer gut ist, wird auch später gut.

Die naiven Begabungstheoretiker meinen nun, diese Art von Begabung sei angeboren und man könne da nichts machen. Das ist falsch – aus einer ganzen Reihe von Gründen. Die Stabilität der Intelligenz hat tatsächlich viel mit Anlagefaktoren zu tun, es gibt also einen starken Anlagefaktor für Intelligenz. Aber das ist nicht im selben Maße ein Gradmesser für künftige Schulleistungen.

NZ: Jedes zweite Kind hat also in der vierten Grundschul-Klasse seine individuelle Begabung ausgeprägt. Kann sich da ein schlechter Mathe-Schüler später überhaupt noch verbessern?

OERTER: Natürlich. Eine große Zahl von Kindern wird – aus vielerlei Gründen – zu Hause schon vor dem Schuleintritt nicht gut gefördert. Diese Kinder haben also Nachteile erfahren und brauchen mehr Zeit, um das auf zuholen. Das geht schon los mit dem Lesen und Schreiben lernen und hat mit der Mathematik natürlich auch viel zu tun. Dann gibt es Kinder, die sich mit zehn Jahren in einer Krise befinden, bei denen das weitere Entwicklungspotenzial noch unklar ist.

Wirklich klar erscheint das Potenzial allenfalls bei etwa 20 Prozent der Kinder im Alter von zehn oder elf Jahren – aber nicht für die 60 Prozent, die dann schon in die Realschulen oder ins Gymnasium gehen sollen. Das heißt: Nur mit einer reinen Intelligenzmessung kann man keine Prognose für ein Kind stellen, da muss mehr erfasst werden. Und genau das können natürlich die Lehrer, weil sie die Entwicklung der Kinder kennen – nicht nur die geistige Entwicklung und die geistige Leistungsfähigkeit, sondern auch die Motivation und die Gesamtpersönlichkeit.

NZ: Gibt es im Grundschulalter schon Unterschiede, wie gut Kinder mit Leistungsdruck umgehen können?

OERTER: Da sind wir an einem Punkt, der mir sehr wichtig erscheint: Wenn man schon nach vier Grundschuljahren über den weiteren Schulweg des Kindes entscheidet, dann verlagert man zwangsläufig den Druck auf das Kind nach vorne. Dann wird schon ab dem Schuleintritt – vor allem von Seiten der Eltern – forciert, dass das Kind möglichst selbstverständlich mit zehn Jahren in die Realschule oder ins ins Gymnasium kommt. Und dieser frühere Druck führt zu einer Gefährdung des Kindes. Schon heute haben 20 bis 30 Prozent der Kinder – die Psychiater sind sich nicht einig – psychosomatische Symptome und Ängste.

NZ: Wenn also die endgültige Entscheidung für die weitere Schullaufbahn am Ende der vierten Klasse fällt, dann werden mehr Kinder krank. Welche Entwicklungschancen hat dann das Kind, wenn diese Entscheidung erst nach der fünften oder sechsten Schulklasse fällt?

OERTER: Ich meine, als Voraussetzung für eine Entwicklung der Potenziale ist eine individuelle Förderung des Kindes notwendig. Mit sechs Jahren können manche Kinder schon lesen und schreiben, anderen liegen hier noch ganz weit zurück. Genau diese Kinder müssen optimal gefördert werden, damit sie nicht gegenüber den Fortgeschritteneren verlieren.

NZ: Ab welchem Alter etwa kann man beurteilen, wie die weitere Entwicklung eines Kindes verlaufen wird?

OERTER: Das ist von Kind zu Kind verschieden. Bei manchen kann man wirklich schon mit sechs, sieben Jahren voraussagen, was aus ihnen werden kann, bei manchen kann es sehr lange dauern. Aber wenn man einen Schnitt bildet – und das scheint auch die internationale Erfahrung zu sein –, dann ist diese Begabungsentwicklung erst nach der sechsten Klasse, also etwa mit zwölf Jahren, relativ stabil.

Nun ziehen wir diese R 6-Schulreform in einigen Bundesländern durch. Fast überall sonst auf der Welt herrscht dagegen die sechsklassige Grundschule vor. Und das hat seine guten Gründe: Die sechsklassige Grundschule dient nicht zuletzt auch der Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Wenn wir aber die Kinder schon im Alter von zehn Jahren ausdifferenzieren, dann bilden wir am Ende eine Art Kastenwesen heraus. So betrachtet, ist eine Schulreform, die so etwas einführt, vollkommen anachronistisch. Wir stellen uns damit gegen den Rest der Welt, vor allem auch gegen den Rest Europas. Und in einer Europäischen Union, in der man auch im Bildungs-Bereich zusammenwachsen will, ist das nicht sehr vorteilhaft.

NZ: Wie würde also aus Ihrer Sicht das optimale Schulsystem – auch hier in Bayern – aussehen?

OERTER: Das ist nicht so leicht zu beantworten. Optimal wäre sicherlich eine individuelle Förderung in gemeinsamen Klassen bis zum Ende des sechsten Schuljahres. Danach erst sollte die Trennung in die drei Schultypen – also Hauptschule, Realschule und Gymnasium – erfolgen. Ich persönlich würde sogar noch etwas weiter gehen als die Verfechter der „Besseren Schulreform“. Aber dieses Volksbegehren ist so abgefasst, dass es realisierbar ist. Also ich würde das unterstützen. Das Gespräch führte Tilmann Grewe

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