Sozialwissenschaftler Rainer Roth zu HartzIV-Urteil:

„Hier wird bestenfalls umetikettiert!“

Aschaffenburg. Mit dem Thema „Einfach nur Gier? Klartext zu Ursachen, Entwicklung und Folgen der Krise“ eröffnete die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Aschaffenburg-Miltenberg den Veranstaltungsreigen ihres Aktionskalenders 2010. Mitveranstalterin war die Betriebsseelsorge Untermain. Als Referent eingeladen war der Buchautor und ehemalige Professor für Sozialwissenschaften Rainer Roth (Frankfurt, M.).

Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise: Gier?

Das Gift wird eingeflößt, indem man Banden hemmungsloser Spekulanten ... zu Musterexemplaren erfolgreichen ... Unternehmergeistes erhebt, so dass das Vertrauen in das langsame Reichwerden vermöge ehrlichen Fleißes erschüttert wird“ zitierte Roth die Londoner Times – nein, nicht aus dem Jahr 2008, sondern 1857, dem Ausbruchsjahr der ersten großen kapitalistischen Weltwirtschaftskrise. Gier und Spekulation seien jedoch nicht das Kernproblem von krisenhaften Erkrankungen unseres Wirtschaftskörpers, ebenso wenig, wie das Fieber die Ursache von Krankheiten ist. Das Gerede von der Gier solle ertragen helfen, dass es im Kapitalismus immer wieder Krisen geben wird, weil man gegen die menschliche Natur eben nichts ausrichten kann. „Die Charaktereigenschaften von einigen Menschen, die Kapital besitzen bzw. verwalten, werden umgelogen zur menschlichen Natur schlechthin.“, so Roth.

Krise als Folge falscher Verteilung?

Süffisant ging der Wissenschaftler auf Analysen von gewerkschaftlicher und linker Seite ein, die Konsumflaute und sinkende Binnennachfrage infolge „falscher Verteilung“ als Krisenursache sieht: „In der Tat: Wenn alle genug Geld hätten, um alle Waren zu kaufen, gäbe es keine Überproduktion von Waren und Kapital und dann auch keine Krise. Und wenn immer die Sonne scheinen würde, gäbe es auch kein schlechtes Wetter.“ Die Produktionsweise sei entscheidend für die Verteilung, nicht umgekehrt.

Wer soll für die Krise zahlen?

Wer die Interessen der abhängig Beschäftigten bzw. der unverschuldet Erwerbslosen vertrete, müsse dafür eintreten, dass die Kapitalseite in möglichst großem Umfang für die Kosten ihrer Krise aufkommt, wandte sich Rainer Roth an die Vertreter der KAB, des Vereins für „Hart(z)-Betroffene“ und seiner eigenen Gewerkschaft im Raum. Bei der Erläuterung eines diesbezüglichen Gesamtprogrammvorschlags hob er die Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro und nach einem Hartz IV-Eckregelsatz von mindestens 500 Euro hervor. Sie sei auch gerade dem jüngsten diesbezüglichen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes entgegenzuhalten.

Hartz IV-Urteil begrüßen?

Die euphorischen Reaktionen von linker Seite auf das Urteil kann Roth nicht verstehen. Habe es doch ausdrücklich gerade nicht feststellen können, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge - inklusive der Kinderregelsätze - evident unzureichend sind. Das Gericht kritisierte die „freihändige“ Festsetzung von Bedarfssätzen: „Hier wird bestenfalls umetikettiert!“ Nach Roth zementierte das Gericht die jetzige Grundlage der Regelsatzbemessung und eröffne Freiräume für weitere Kürzungen. Roth: „Das ist verfassungsgemäß und ‚menschenwürdig’. Das sollen wir begrüßen?“

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Das komplette Vortragsskript ist herunterzuladen unter www.gew-aschaffenburg.de

Weitere Informationen zu Veröffentlichungen von Prof. Rainer Roth unter www.klartext-info.de