Vom Leben fränkischer Landjuden erzählen: »Sie waren nicht fremd, sie waren anders«Ausstellung über den jüdischen Friedhof Rödelsee im Lichthof des Rathauses»Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte« schrieb Heinrich Heine, als er Soldatengräber bei Marengo besichtigte. Christian Reuther und Michael Schneeberger spürten über Grabsteine auf dem Friedhof Rödelsee bei Kitzingen der Geschichte von jüdischen Familien im Landkreis Würzburg nach. Das Ergebnis ist die Ausstellung »Nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu beweinen. Ein jüdischer Friedhof in Deutschland«, die anläßlich des 60. Jahrestages der Reichspogromnacht im Lichthof des Aschaffenburger Rathauses eröffnet wurde. 17 schwarzgekleidete Frauen wurden zu einem Gruppenfoto arrangiert. Ein bißchen steif wirken sie, ein eingefrorenes Lächeln auf den Gesichtern. Sie sehen aus, wie normale Frauen auf gestellten Fotografien aussehen: Mittleren Alters, sorgfältig frisiert, stämmig. Die Frauen von Weinhändlern, Bäckern, Lehrern, nichts besonderes. Nur, daß elf von ihnen während der Naziherrschaft in Arbeits- und Todeslager deportiert wurden. Das 3,60 mal 2,20 Meter große Foto wurde im Jahre 1935 aufgenommen und zeigt die Mitglieder der letzten Chewrah Kaddischa von Kitzingen, des Beerdigungs- und Wohlfahrtsvereins der Frauen der Israelitischen Kultusgemeinde. Der Verein übernahm nicht nur die Beerdigungsformalitäten, die rituelle Waschung und Begleitung der Leichname auf den Friedhof Rödelsee, er pflegte auch kranke Frauen und Kinder. Moderne KonzeptionDie Texte und Fotografien der 1993 erstmals gezeigten Ausstellung sind technisch und konzeptionell nach modernsten Erkenntnissen zusammengestellt. Sie erzählen vom Leben jüdischer Menschen in Unterfranken, von ihrer Vertreibung und von ihrem sinnlosen Tod exemplarisch für Millionen ähnliche Schicksale. Harmlos wirken auch die meisten Fotografien der Familien, die Texte und Bilder, die das Leben in unterfränkischen Dörfern oder die Geschichte jüdischer Bestattungsrituale dokumentieren. Kindlich frisch ist das Porträtfoto von Ilse Judith Schönfärber, die am 25. April 1942 mit ihrer Mutter Martha nach Izbica bei Lublin deportiert wurde. Beide starben vermutlich noch im Sommer des selben Jahres im Vernichtungslager Belzec. Der Vater Daniel Schönfärber konnte emigrieren und überlebte als einziger der Familie den Holocaust. Einer der gezeigten Grabsteine aus Rödelsee gehört zum Grab seiner Eltern. Fototechnische FinessenChristian Reuther, der unter anderem die Frankfurter Wehrmachtsausstellung gestaltet hat, erläuterte am Eröffnungsabend technische Finessen: Die acht Grabsteine, die das Zentrum der Ausstellung bilden, wurden unter rund 50 Fotografien ausgewählt, allesamt vor Ort bei Nacht mit Großblitzen aufgenommen und mit aufwendiger Technik nachbearbeitet. Die Nachbereitung war notwendig, um die teilweise fast verwitterten Inschriften erkennen zu lassen. Die Fotografien zeigen die Grabmäler in Originalgröße und sind bewußt in der Reihenfolge ihres Zustands angeordnet: Die Inschrift des ersten Steins ist noch gestochen scharf zu lesen, während der letzte, der Stein von Jeremias Fleischmann, völlig verwittert ist. Nur über das Friedhofsregister von Kitzingen gelang es, die Familie zu identifizieren. Die durch die Technik hervorgehobenen Verwitterungen sollen betonen, so Reuther, daß bald nichts mehr zu lesen sein wird, auch mit den Fotografien soll ein Beitrag gegen das Vergessen geleistet werden. »Eine reiche Welt öffnet sich«, so Michael Schneeberger über seine langjährigen Forschungen, »mit der Beschäftigung kommt die Erinnerung zurück«. Das Unspektakuläre gehört nach den Worten des Historikers, der sich seit seiner Rückkehr aus Israel mit der Geschichte der süddeutschen Juden beschäftigt, und Texte und Recherche der Ausstellung verantwortet, zum Konzept der Ausstellung: Ohne Melodramatik soll der Besucher Zugang zu dem unfaßbaren Grauen finden. Denn exemplarisch für tausend andere Lebensgeschichten soll die Ausstellung weit mehr als acht Fotografien verwitterter oder gewaltsam zerschlagener Grabbsteine zeigen. Sie soll vom Leben einfacher Menschen erzählen, die seit Generationen in Unterfranken lebten und trotzdem zu Fremden gemacht wurden, weil sie aufgrund ihres Glaubens anders waren. So erläuterte auch der Projektleiter der Ausstellung in Aschaffenburg, Reinhard Frankl, Lehrer und Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft als einer der Veranstalter, die Didaktik des Projekts. Frankl bedankte sich bei den übrigen Veranstaltern, dem Förderkreis des jüdischen Dokumentationszentrums »Haus Wolfsthalplatz«, dem Verein Schule und Erziehung Aschaffenburg, dem Deutschen Freidenkerverband und der Initiative gegen Rechtsradikalismus und Ausländerhaß. Oberbürgermeister Willi Reiland betonte als Schirmherr der Ausstellung, wie wichtig es sei, in Familien und Schulen besonders sensibel und keinesfalls selbstherrlich mit der Problematik umzugehen. yp Die Ausstellung ist noch bis zum 4. Dezember im Lichthof des Rathauses zu sehen, Führungen sind am Donnerstag, 12. November, und am Mittwoch, 18. November, jeweils 15.30 Uhr, weitere Termine auf Anfrage, unter Telefon 06095/995049. |