"Förderung statt Sitzenbleiben"
Gewerkschaft diskutierte über Alternativen zu den "Ehrenrunden" in der Schule
Aschaffenburg. Tausende von Schülern kennen sie, die "Ehrenrunde". Quer durch alle Schultypen hat ein Viertel aller 15-Jährigen in Bayern irgendwann mal eine Klasse wiederholt. Weil sich durch die PISA-Untersuchung erneut die Sinnlosigkeit des Sitzenbleibens bestätigt habe, fordert Marianne Demmer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ein Umdenken bei Lehrern und Eltern bis hin zu den Kultusministern. Allenfalls freiwillig sollten Klassen wiederholt werden können. Statt dessen setzte Demmer bei einem GEW-Informationsabend in Aschaffenburg auf frühzeitige Förderung.
Nachhilfe auf Staatskosten, individuelle Fördermaßnahme oder Klassenarithmetik, die letzte Möglichkeit der Lehrer, unbotmäßige Schüler zu disziplinieren oder volkswirtschaftliche Verschwendung? Das Spektrum der Meinungen zum Thema "Sitzenbleiben" war breit, auch unter den rund 25 anwesenden Pädagogen. Vom "Mir hat's gut getan" eines heute gestandenen Lehrers bis zum Eingeständnis "Bei mir bleibt niemand sitzen" war alles zu hören.
Unterstützung einfordern
Dem stellte Marianne Demmer, im GEW-Hauptvorstand in Frankfurt für Schulpolitik zuständig, harte - und kluge - Worte, garniert mit vielen Statistiken, entgegen. Ihr Plädoyer: "Schwache Schüler nicht nur mitschleppen, sondern gezielt und frühzeitig fördern." Nach dem PISA-Schock hätten die Kultusminister der Länder reagiert und wollen die Zahl der Sitzenbleiber senken. Lehrer sollten nun gezielt und für den konkreten Fall Unterstützung einfordern.
"Die erhoffte Leistungskompensation durch Sitzenbleiben stellt sich in den meisten Fällen nicht ein", betonte Demmer und verwies auf langjährige, nun durch PISA bestätigte Untersuchungen. Schüler sitzen zu lassen sei vielmehr ein zentrales Instrument im Arsenal eines selektiven Schulsystems - neben Maßnahmen wie einer wissenschaftlich nicht stichhaltigen Schulreife-Feststellung, Übertritten in weiterführende Schulen, konkurrierender Notengebung.
"Entsorgungsmentalität"
Weiterer Selektionsfaktor: Unterstützung der Eltern, die im Halbtagsschulbetrieb als fester Posten eingeplant sei, in sozial schwachen, in belasteten oder Migranten-Familien aber oft wegfalle. Schulprobleme würden nicht zeitnah, gar präventiv gelöst, der Problemfall werde vielmehr in einen anderen Schultyp abgeschoben ("Entsorgungsmentalität").
In diesem Auslesesystem würden Schüler der Schule angepasst, statt Schule für Kinder passend zu machen. Als bessere Alternative stellte Demmer die Methode des "individuellen Lernfortschritts" vor, eingeführt in Schweden, Norwegen und Finnland - mit deutlich besseren PISA-Ergebnissen. Dort sucht Schule, statt zu sortieren, die vorhandenen Potenziale der Kinder zu entwickeln und Benachteiligungen (Behinderungen, soziale Defizite, fehlende Sprachkenntnisse) auszugleichen.
Nicht der Klassenmaßstab, sondern der Lernfortschritt des einzelnen Kindes bilde das Ziel. Späte und geringe Selektion anstelle häufiger Prüfungssituationen und Sitzenlassens produziere eine geringe Versager-Quote. Anders in Deutschland, wo im Schuljahr 2000/01 von insgesamt fast 9961000 Kindern 281400 das Klassenziel nicht erreichten. 3,75 Prozent mussten in diesem Zeitraum in Bayern die Klasse wiederholen (54162 von 1444794 Kindern).
Spitzenreiter war Bremen mit 4,63 Prozent. In Schleswig-Holstein hatte jeder Zweite der 15-Jährigen die Klasse wiederholt, in Bayern war es jeder vierte. Dabei wiederholten 45 Prozent der Migrantenkinder, aber nur 23 Prozent der Kinder deutscher Eltern. "Sitzenbleiben ist keine feste Größe", schloss Demmer daraus. Sie variiere je nach Bundesland, Klassenstand, Lehrereinstellung und Nationalität der Eltern. Kombiniert mit der häufig späten Einschulung in Deutschland ("Schonmentalität als Spiegelbild der Härte eines selektiven Schulwesens") sei dies fahrlässiger Umgang mit Lebens- und Lernzeit von Kindern.
Auch ein Kostenfaktor
Die Diskussion, geleitet vom GEW-Kreisvorsitzenden Eberhard Rauch, widmete sich unter anderem dem Kostenfaktor ausführlicher. Erinnert wurde nicht nur an Schülerfrust und investierte Nervenkraft der Eltern. Auch volkswirtschaftliche Kosten bis hin zu erhöhter Kriminalität von Schulversagern spielten eine Rolle. Deutschland leiste sich eine Quote von nur 30 bis 40 Prozent Studienreife eines Jahrgangs, international liege sie bei 50 Prozent, sagte Demmer. Setze man, wie eine Zeitung, 6000 Euro an staatlichen Kosten pro Sitzenbleiber an, ergebe sich allein in Bayern rein rechnerisch ein dreistelliger Millionenbetrag pro Jahr. In Fördermaßnahmen angelegt, würde das Sitzenbleiben damit wohl der Vergangenheit angehören. luhi